Anlässlich eines Mittagessens vor wenigen Wochen in einem ehrwürdigen Hamburger Herrenclub wurde ich gefragt, was mich als promovierten Volljuristen denn bewogen hat, Soldat zu werden. Offenbar sah man einen Gegensatz zwischen meinem akademischen Hintergrund, verbunden mit umfangreicher wissenschaftlicher Publikations- und Lehrtätigkeit im Ausland, und meiner Entscheidung, Soldat sein zu wollen, der dem Prinzip von Befehl und Gehorsam unterworfen ist.
Ich sehe diesen Gegensatz nicht. Der Freiheitsgedanken steht dem Dienst als Soldat keineswegs entgegen. Dies spiegelt sich in dem Wahlspruch der Offizierschule des Heeres, an der ich meinen Dienst versehe, wider. Dieser Wahlspruch lautet: „In Freiheit dienen.“ Hier werden die Begriffe „Freiheit“ und „Dienen“ nicht als unvereinbar gegenübergestellt, sondern der Dienst findet „in Freiheit“ statt.
Ein Dienst in Freiheit lässt sich meiner Meinung nach auf dreierlei Weise verstehen:
Die erste Lesart ist die eines Dienstes in einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat. Wir als Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr dienen einer freiheitlich demokratischen Gemeinschaft, die wir zugleich auch mit unserem Leben zu verteidigen geschworen haben. So verstanden wäre die Freiheit aber nicht etwas, das die Dienenden für sich selbst beanspruchen könnten. Vielmehr gäben sie es zum Wohle des Ganzen auf.
Diese erste Lesart wäre aber mit den Grundprinzipien eben dieses Gemeinwesens nicht vereinbar. Im Sinne der inneren Führung geben die Soldatinnen und Soldaten ihre Grundrechte nicht am Kasernentor ab, sie bleiben Staatsbürger in Uniform. Sie verteidigen also nicht nur die freiheitlich demokratische Grundordnung, sie sind auch gleichzeitig Träger von Rechten (und nicht nur Pflichten) in diesem Wertesystem. Dies ist die zweite Lesart des Dienstes in Freiheit: Die Soldatinnen und Soldaten genießen auch in ihrem Dienst die durch die Verfassung garantierten Freiheitsrechte, auch wenn die Ausübung eingeschränkt werden kann. Diese zweite Lesart ist also geradezu eine juristische Lesart, da sie auf das Tragen von Rechten Bezug nimmt. Mit der ersten Lesart ist ihr gemein, dass sie auf äußere Faktoren abstellt, die durch das rechtliche und politische System geformt werden.
In diesen äußeren Faktoren erschöpft sich der Dienst in Freiheit allerdings nicht. Dem Dienst am Vaterlande liegt auch freie, bewusste Entscheidung der Soldatinnen und Soldaten zugrunde, dienen zu wollen. Dies ist die dritte Lesart.
Nun ließe sich entgegnen: Das Grundgesetz sieht die Wehrpflicht zumindest noch vor. Und sobald sich eine Soldatin oder ein Soldat zum Dienst verpflichtet hat, hat es mit der Freiheit ein Ende: Schließlich stellt das Wehrstrafgesetz die eigenmächtige Abwesenheit, den Ungehorsam und die Gehorsamsverweigerung unter Strafe. Für die freie Entscheidung, so könnte man meinen, ist hier kein Raum mehr.
Diese Erwiderungen greifen meines Erachtens jedoch zu kurz. So verstanden wäre nicht nur jede Soldatin und jeder Soldat unfrei; vielmehr wären es alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, da Strafgesetzte ihnen Verbote und Gebote auferlegen. Auch überall dort, wo äußere Zwänge bestünden, wäre kein Raum für Freiheit mehr. So verstanden wäre der Mensch nicht frei, sondern nur durch äußere Umstände getrieben.
Mit dem Wahlspruch „In Freiheit dienen“ wird also gleichsam die einzelne Soldatin und der einzelne Soldat dazu ermutigt, sich nicht hinter vermeintlich äußeren Zwängen zu verstecken, sondern die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen; sich jeden Tag erneut zu versichern, dass das „Ob“ und „Wie“ des Dienstes aus einer bewussten Entscheidung dafür geschieht. Die Attentäter des 20. Juli 1944 haben uns gelehrt, dass es immer eine freie Wahl gibt, für die eigenen Werte einzutreten bzw. dem Unrecht entgegenzutreten. Auch wenn der Preis dafür das eigene Leben ist. In diesem Sinne soll der amerikanische Bürgerrechtler Malcom X einmal formuliert haben: “If you’re not ready to die for it, put the word „freedom“ out of your vocabulary.”
Das Wertesystem des Grundgesetzes versucht, einen äußeren Rahmen für diese innere Wertentscheidung zu bieten: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Befehle, deren Befolgung die Menschenwürde verletzen würde, dürfen nicht befolgt werden. Soldatinnen und Soldaten können bei offensichtlich rechtswidrigen Befehlen auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie in Ausführung solcher Befehle Kriegsverbrechen begehen. In gewissen Grenzen befreien moralische Wertungen Soldatinnen und Soldaten einerseits vom Gehorsam. Andererseits sind Soldatinnen und Soldaten sogar dazu aufgerufen, ihr Gewissen zu befragen, wollen sie sich nicht der strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt sehen.
Wir Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr dürfen dankbar dafür sein, dass das Wertesystem des Grundgesetzes einen solchen äußeren Handlungsrahmen schafft. Die Gefahr, wie die Attentäter des 20. Juli 1944 für unsere Gewissensentscheidung mit dem Leben bezahlen zu müssen, scheint gering. Und dennoch handelt es sich nur um den Versuch, einen Einklang zwischen dem äußeren Handlungsrahmen und der inneren Werteentscheidung, also der ersten und zweiten Lesart sowie der dritten Lesart herzustellen, und den Konflikt zu vermeiden. Es wird jedoch weiterhin Grenzfälle geben, in denen das Individuum Verantwortung übernehmen und sein Gewissen wird befragen müssen. So wurde im Nachgang zum 11. September 2001 die Frage diskutiert, ob die Bundeswehr ein von Terroristen gekapertes Flugzeug würden abschießen dürfen. Die rechtlichen Fragestellungen sind hier ein Aspekt; allerdings nicht die einzigen.
Sehr treffend lassen sich die obigen Ausführungen in einem Zitat von Theodor Storm zusammenfassen:
Der eine fragt: Was kommt danach?
Der andre fragt nur: Ist es recht?
Und also unterscheidet sich
der Freie von dem Knecht.
Und so diene ich in Freiheit.